Ein Zuhause für scheue Katzen – Erfahrungen einer Pflegestelle

Vertrauen wächst mit der gemeinsamen Zeit

Sie möchten einer scheuen Samtpfote ein Zuhause geben? Das wäre schön, denn diese unaufdringlichen schnurrenden Freigeister haben es auf jeden Fall verdient! Mitleid benötigen sie nicht, sondern ein Zuhause, in dem sie willkommen sind und sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln können. Diese Katzen besitzen häufig einen interessanten Charakter, binden sich an ihre Familie, jedoch nicht an Fremde. Diese Eigenschaften haben dazu geführt, dass sich die Scheuen schon längst in mein Herz geschlichen haben und hoffentlich bald auch in Ihres.

Was sollte ein Zuhause bieten, in dem einer anfangs scheuen Katze das Einleben gelingt?

Vorteilhaft für alle Beteiligten ist es, wenn Sie der Katze für die erste Zeit einen wenig genutzten Raum zur Verfügung stellen können. Dort sollte sie alle Dinge vorfinden, die sie benötigt. Einen Kratzbaum, Futter, Wasser, ein Katzenklo, Katzengras, Spielzeug, evtl. ein Schmusekissen mit Baldrian oder Katzenminze und ganz wichtig: ein geeignetes Versteck.

Im Versteck

Das kann eine Höhle im Kratzbaum sein, aber auch ein Stuhl über den man ein Betttuch hängt oder ein großer Karton mit einer Decke drin (oben geschlossen, vorne und an einer Seite ein Loch hinein geschnitten, damit es einen Eingang und einen Fluchtweg gibt). Das ganze platziert in einer ruhigen Ecke, denn das Angst-Kätzchen möchte am liebsten beobachten können, ohne selbst gesehen zu werden.
Haben Sie kein Katzenzimmer für die Eingewöhnung zur Verfügung, funktioniert auch eine ruhige Ecke z.B. im Wohnzimmer. Wichtig ist dabei, dass alle Gegenstände, die von der Katze benötigt werden um ihre Bedürfnisse zu stillen, in ihrer direkten Nähe stehen. Denn traut sie sich anfangs nicht in der Wohnung herumzulaufen, wird sie auch nicht das Katzenklo im Gäste-WC oder die Futterschale in der Küche aufsuchen. Erst wenn der Neuzugang überall im Zuhause herumläuft, können die Utensilien an den vorgesehenen Ort verschoben werden.

Geducktes Laufen

Ja, und dann sitzt dort Ihr Familienzuwachs regungslos mit weit geöffneten Pupillen (das bedeutet Stress und Angst!) und hofft, nicht entdeckt zu werden. Wir nennen diese Zeit Eulenstadium. Denn das aktive Leben dieser Mieze wird sich in nächster Zeit vorzugsweise während der Nacht abspielen, oder wenn sie alleine ist. Dabei ist sie anfangs sehr vorsichtig. Läuft geduckt, als hätte sie Dackelbeine, ihr ganzer Körper ist auf Flucht programmiert. Wird sie bei Aktivitäten „erwischt“ sucht sie eilig ihr Versteck auf, in dem sie sich sicher fühlt. Vielleicht faucht sie vorsichtshalber sogar, damit der Mensch genügend Abstand hält.

Menschen beobachten

An ihrem sicheren Platz kann sie ruhen , beobachten und überlegen, was Katze als nächstes tun könnte. Bitte niemals mit der Hand in dieses Versteck hineingreifen so lange die Katze Ihnen nicht vertraut! Dieser Übergriff würde mit einem Pfotenhieb oder Biss beantwortet.

Und was macht der Mensch während der ersten Tage?

Fast nichts! Gestresste Katzen schlafen viel, um sich dem Druck zu entziehen. Gestatten Sie ihr das und ignorieren Sie weitgehend ihren unsichtbaren Mitbewohner. Beschränken Sie sich auf das reine Versorgen. Das heißt: Füttern, Wasser tauschen, Katzenklo säubern und beobachten, ob es Hinweise darauf gibt, dass Mieze ok ist.

Angstgesicht

Ansonsten leben Sie so normal wie immer, gehen keinesfalls auf Zehenspitzen durch ihre Wohnung und vermeiden auch nicht sämtliche Geräusche. Dieses angespannte Herumschleichen würde Ihre Katze nur noch mehr verunsichern. Und bitte nehmen Sie keinen Urlaub, um dem Mini-Tiger beim Einleben beizustehen! Das ist eher nachteilig. Ebenso sollten sie die Angst der kleinen Fellnase nicht bestätigen, indem sie das Tier mit Worten trösten wollen. Das wird sie falsch verstehen und glauben, sie sind ebenfalls der Meinung dass es Grund zur Furcht gibt. Sprechen sie erst ausführlich mit ihr, wenn sie schon einige Tage bei Ihnen wohnt und nicht mehr so gestresst ist.

Ob Ihr Tier schon aktiv die Umgebung erkundet können Sie z.B. feststellen, wenn Sie: Krümel der Katzenstreu am anderen Ende des Zimmers finden, Pfotenabdrücke auf einem Kissen oder der Couch, Spielzeug, das an einer anderen Stelle liegt, ein nassgelutschtes Schmusekissen oder Haare auf der Liegefläche des Kratzbaums. Ein leeres Futterschälchen und ein benutztes Klo sind natürlich eindeutig.

Essen am Liegeplatz

Es kann aber gerade in den ersten 3 Tagen passieren, dass das verängstigte Tier nicht fressen mag und deshalb auch das Klo ungenutzt oder wenig benutzt bleibt. Im Bauch ist halt nicht viel drin. Sogar gekochtes Hühnchen, Katzenmilch, Tunfisch oder andere Leckereien bleiben in dieser Zeit oftmals stehen. Das bedeutet nicht, dass die Katze das Futter nicht mag, sondern dass der Stress zu groß ist, um genüsslich zu schlemmen.

Es kann aber ebenso sein, dass sie ein Exemplar haben, das von Anfang an völlig normal frisst, das Klo benutzt, spielt und sich nur dann versteckt, sobald ein Mensch das Zimmer betritt.

Halten Sie sich im „Katzenzimmer“ auf, können Sie in normalem Tonfall schildern, was sie gerade tun. So gewöhnt sich der kleine Tiger an Ihre Stimme. Schenken Sie der Mieze ein getragenes Shirt, damit sie den Geruch ihrer Bezugsperson kennenlernen kann, denn Katzen erfahren viel über die Nase. Einige rubbeln auch ihren Kopf oder sogar den ganzen Körper auf getragenen Kleidungsstücken. Das hilft, einen gemeinsamen Familiengeruch herzustellen. Nach ca. einer Woche können Sie die Tür des Katzenzimmers öffnen, so dass sich Mieze während Ihrer Abwesenheit oder nachts ihr komplettes neues Revier anschauen kann.

Vorsichtiges Schauen

Davon merken Sie vielleicht am Anfang nichts, aber Sie können sicher sein, die Wohnung wird inspiziert! Legen Sie doch einfach mal ein paar beliebte Leckerchen in der Wohnung aus bevor sie diese verlassen und schauen nach Ihrer Rückkehr, ob welche fehlen. Bei uns ist es schon oft vorgekommen, dass sämtliche Stückchen gefunden und vertilgt wurden, obwohl die Katze bei unserer Rückkehr wieder in ihrem Zimmer bzw. Versteck verschwunden war. Sie hat ja schon längst gelernt, wie sich der Motor unseres Autos anhört, die Schritte im Hausflur und das Geräusch des Schlüssels im Schlüsselloch. Am Anfang sind diese Geräusche der Startschuss, sich zu verstecken, später, wenn Mieze ihren Menschen vertraut, werden sie der Startschuss für die Begrüßung an der Tür sein.

Während der nächsten Zeit wird sich ihr neues Familienmitglied verändern. In welcher Geschwindigkeit kann man nicht sagen, denn das ist von Katze zu Katze äußerst unterschiedlich. Die Spanne reicht von mehreren Tagen, über einige Wochen bis zu Monaten. Auch wenn sie sich noch nicht sehen lässt und anfassen schon gar nicht, gibt es eindeutige Hinweise auf eine positive Entwicklung:

Futteraufnahme, das Klo benutzen, spielen. Zuerst während der Nacht, später auch am Tag.

Offener Blick

Normaler Augen- und Gesichtsausdruck, normale Pupillengröße.

Das Versteck verlassen, fressen und spielen, auch wenn ihr Mensch in der Nähe ist. Ist ihr etwas nicht geheuer, weniger weit flüchten, dabei stehen bleiben und zurück schauen.

Herumlaufen in aufrechter, entspannter Körperhaltung. Dabei verteilt die Katze über Drüsen an den Pfoten ihren individuellen Geruch. Sie kann die Duftpfade riechen und erkennen, wo sie schon einmal gewesen ist.
Und bitte der Katze bei den ersten unsicheren Erkundungstouren nicht Ihre Lebensgeschichte erzählen, oder sie gebannt anstarren, sondern so tun als wäre alles was sie macht das Normalste der Welt. Aber natürlich dürfen Sie sich freuen! Nur nicht zu laut, denn dann verschwindet sie wieder.

Am Kratzbaum kratzen, oder sich an Gegenständen rubbeln.

Kratzmarkieren

Dabei streift sie nicht nur die alten Hülsen der Krallen ab, sondern meldet auch Revieransprüche an.

Weniger schlafen und stattdessen in der Nähe sitzen oder liegen und beobachten. Toll, wenn dabei die Pfötchen eingerollt sind oder sie entspannt auf der Seite liegt.

Zublinzeln. Bitte erwidern Sie das! Denn dieses Blinzeln ist ein freundliches Kontaktangebot. Quasi das Anlächeln mit der Bestätigung freundlich gestimmt zu sein.

Die Federangel fangen, auch wenn am anderen Ende der Mensch hängt.

Anna schläft

In der Nähe ihrer Bezugsperson oder sogar am Fußende des Bettes schlafen, ohne unter eine Decke zu kriechen.

Bei Ansprache oder Blickkontakt sich recken, strecken und gähnen, vielleicht auch den Abstand verringern und dabei das Schwänzchen wie eine kleine Antenne nach oben richten.

Sich in kurzer Entfernung auf den Boden legen und genüsslich hin und her rollen. Schnurren. Manchmal sogar ohne dass gestreichelt wird. Leckerchen aus der Hand nehmen.

Übrigens kommen diese vorsichtigen Katzen anfangs mit sitzenden Menschen besser zurecht, als mit stehenden. Der kleinere Mensch wirkt eben weniger bedrohlich.

Haben Sie das Gefühl, Ihre Katze möchte Kontakt, traut sich aber nicht, können Sie eine langstielige weiche Bürste zur Hilfe nehmen. Der lange Stiel sorgt für einen Abstand zwischen Mensch und Tier, was vorteilhaft für beide ist.

Kontakt über die Bürste

Versuchen Sie, Mieze damit zu streicheln, z.B. wenn sie unter einer Decke liegt und den Mensch nicht sieht. Zuerst ansprechen und dann lassen Sie die Bürste mit der haarlosen Rückseite leicht über die Decke streichen, wo sie den Kopf vermuten. Nicht abschrecken lassen, wenn die Katze mit Flucht oder Fauchen reagiert. Sie muss ja erst positive Erfahrungen damit machen.

Bleibt sie nach einigen Versuchen still liegen, können Sie die Bürste unter die Decke schieben und sanft an den Gesichtsseiten entlang fahren. Ich wurde dabei schon häufig mit dem schönsten Geräusch der Katzen belohnt: dem Schnurren!

Sie beginnt, diesen Kontakt zu genießen

Und achten Sie auf das eindeutige Kontaktangebot, wenn sich ihr Leisetreter zu Ihnen gesellt, Sie beschnuppert, sich vielleicht an Ihrem Bein rubbelt und Ihnen danach mit hochgestelltem Schwanz den Popo zudreht. Das ist eine Einladung sacht über den Rücken zu streicheln! Anfangs nicht übertreiben und darauf achten, wann der kleine Tiger im Taschenformat genug hat.

Nicht alle Katzen halten sich an die oben genannten Entwicklungsschritte, die auch nicht in dieser Reihenfolge auftreten müssen. Einige straffen das Programm und schaffen mehrere Schritte zeitgleich. Aber nicht jede Samtpfote ist solch ein Streber!

Welche Eigenschaften / Fähigkeiten sind für einen Halter von scheuen Miezen hilfreich?

Ein gutes Beobachtungsvermögen, damit Sie erkennen, wann etwas nicht mehr in Ordnung ist.

Die Grundlagen der kätzischen Körpersprache zu kennen ist nützlich. Z.B bedeutet es eine massive Bedrohung, wenn Sie die Katze anstarren. Der Mensch hält es aber für normales Interesse. Das sind echte Missverständnisse!

Zeit lassen …

Katzen sind keine kleinen Menschen, und sie ticken anders! Nicht bedrängen!

Insgesamt gilt die Devise: Abwarten und Tee trinken, denn gerade am Anfang ist weniger mehr! Das muss man aushalten können! Viele Menschen sind zu früh zu bemüht!

Vertrauen zu den eigenen Fähigkeiten ist gut. Kommen jedoch bei irgendetwas Zweifel auf, dürfen Sie sich nicht scheuen Rat einzuholen. Z.B. dann, wenn die Katze länger als die ersten 3 Tage nichts frisst oder andere Auffälligkeiten zeigt. Rat holen bedeutet nicht Versagen!

Gibt es mehrere Personen im Haushalt, sollte man damit leben können, dass sich die Katze oftmals eine Bezugsperson wählt, der sie zuerst vertraut. Zeitgleich mehreren Menschen freundschaftlich zugetan sein, das schaffen diese Miezen nicht sofort. Später schon eher.

Alles gut

Ein gesundes Vertrauen zum Tier Katze wäre gut. Denn sie sind keine hilflosen Wesen, sondern kleine Raubtiere, die anpassungsfähig und schlau sind. Meistens wissen sie recht gut, was sie tun oder lieber lassen sollten. Sie leben nach dem Motto: Alles zur rechten Zeit. Geben Sie ihr die Chance dazu. Auch wenn die Katze mehr Zeit benötigt, als wir uns wünschen.

Und bitte übersehen Sie die o.g. Fortschritte nicht, weil sie auf das Streicheln lassen fixiert sind. Sondern würdigen Sie jeden Entwicklungsschritt und freuen sich an Ihrem Tier. Halten Sie durch, bekommen Sie meistens ein echtes Charakterkätzchen, welches seinen Menschen zugetan ist.

Ankommen dürfen …

Der Zeitpunkt, wann Mieze Freilauf haben kann, lässt sich schlecht in Tagen oder Wochen nennen. Normalerweise ist es dann soweit, wenn sich eine Beziehung zwischen Mensch und Tier entwickelt hat, und die Katze sich sicher fühlt. Dann können Sie auch davon ausgehen, dass Ihr Leisetreter nach dem Streifzug gerne wieder daheim sein wird.

Und bitte bedenken Sie: Alle Katzen bedeuten Verantwortung, aber diese ganz besonders. Denn haben sie sich ihren Menschen angeschlossen und vertrauen ihnen, bricht für sie eine Welt zusammen, wenn sie ihr Zuhause verlassen müssen.

Literatur, die hilfreich sein könnte:

  • Kätzisch für Nichtkatzen (Martina Braun, 2007)
    „Martina Braun geht den vielfältigen Kommunikationsmitteln der Katzen bauf den Grund und beschäftigt sich dabei auch mit Mimik, Gestik, Körperhaltung und besonderen Verhaltensweisen.“
  • Das Spielebuch für Katzen (Helena Dbaly und Stefanie Sigl, 2008)
    „Die Autorinnen zeigen unzählige Spielideen, die sich in jedem Haushalt mit mehr oder weniger Bastelarbeit leicht verwirklichen lassen und den Katzen ebenso wie auch den Menschen jede Menge Spaß machen.“

Irene Müller


28.06.2012 Auszug aus einer Mail, die uns zu dem Artikel erreichte:
»Stimmt alles, habe beim Lesen oft genickt. (…) Meine „Scheue“ (da lach’ ich ja inzwischen schon fast drüber!) liegt jetzt übrigens beim Mittagsschlaf bereits am Fußende des Sofas.«